Licht und Dunkelheit

Es gibt einen Grund, weswegen Hexerei in den vergangenen Jahrhunderten und mancherorts auch heute noch brutal verfolgt wurde. Viele machen Frauenfeindlichkeit und die Bedrohung für die Machthabenden durch die Magie des Individuums verantwortlich. Doch ich denke, dass es im Kern etwas anderes ist. Es ist die Dunkelheit und das „Böse“ der Hexerei, das Menschen Angst macht. Denn im Gegensatz zu der modernen Licht-und-Liebe-Spiritualität integriert Hexerei das Dunkle nicht nur, sie entspringt aus ihr. All die Bilder von Hexen, die bei Kerzenschein im Kessel rühren, Insekten- und Reptilienteile hineinwerfen, (eigenes) Blut opfern, Rinderherzen für Flüche nutzen – all das existiert in der Wirklichkeit. Es ist keine Lüge des Patriarchats. Und verständlicherweise macht es uneingeweihten Menschen Angst. Warum aber ist die Dunkelheit und der Tod für Hexen so wichtig? Und sind sie deswegen schlechte oder gar gefährliche Menschen?

Hexenaltar, Canva

Die Magie-Theorie (und viele andere Religionen und Philosophien) geht davon aus, dass das Eine Göttliche, das unsere gesamte Realität umfasst, aus zwei Polen besteht, aus einem aktiv sendenden und einem passiv empfangenden. Man kann sich den aktiven Pol wie eine Lichtquelle vorstellen, die Hitze und Licht sendet. Um empfangen zu werden, darf jedoch alles um die Lichtquelle herum nicht die Lichtquelle selbst sein. Die Umgebung muss zumindest dunkler, im besten Fall vollständig dunkel sein, damit die Lichtquelle als solche wahrgenommen werden kann. Gäbe es kein Vakuum, stünde das gesamte Universum in Flammen. Gäbe es kein Licht, wäre alles Dunkelheit. Licht und Dunkelheit bzw. Aktiv und Passiv sind die Grundlage aller Schöpfung, im Großen wie im Kleinen. So begegnet uns auch im Alltag ständig diese Polarität: oben und unten, links und rechts, männlich und weiblich, heiß und kalt, Himmel und Erde, Liebe und Hass, Leben und Tod, Gut und Böse. 

Der Überlebenstrieb in uns drängt uns das Licht, die Wärme, die Liebe und das Leben zu suchen. Ihre Gegenteile machen uns Angst, denn hier lauert der Tod. Doch der Tod ist für Hexen heilig. Das Nichts, die Dunkelheit sind ein Nullpunkt, an dem sich alle Wege erst eröffnen. Durch den Tod wird Transformation und Weiterentwicklung erst möglich. Hier begegnen wir uns selbst und in uns der großen Göttin – der Personifizierung des passiven, empfangenden Prinzips des Wicca. Sie schenkt dem Gott, der Personifizierung des aktiven, sendenden Prinzips überhaupt erst den Raum, um zu existieren. Im Tod finden wir das Leben.

Deswegen sind Schattenarbeit und die magische Arbeit mit den Elementen des Todes und der Dunkelheit so verbreitet in der Hexerei. Es bedeutet nicht, dass Hexen deswegen gefährlich sind. Im Gegenteil – gefährlicher ist es, den Tod aus Angst zu verdrängen. Denn dann bricht sich die Macht der großen Göttin mit Gewalt Bahn. Ihr Wirken ist unumgänglich und allgegenwärtig. Hexen wissen das und streben nach einer Balance zwischen Licht und Dunkelheit, auch in ihren Zaubern und Ritualen. Denn möchtest du eine Intention durch Magie manifestieren, musst du ihr den Raum schenken, um in der Realität empfangen werden zu können. Die Dunkelheit und die Weite des Todes helfen dir dabei.