Das Boot gleitet lautlos über das mondscheinbeschienene Wasser. In der silbernen Dunkelheit ziehen Weiden, Wasserpflanzen und Blumenranken an uns vorbei. In den Gesang der Frösche und dem Zirpen der Zikaden mischt sich ein tiefes Trommeln im Takt meines Herzschlags. Je näher wir unserem Ziel kommen, desto lauter wird es. Der raue, sehnsuchtsvolle Klang des Tlapitzalli, der Flöte der Azteken, dringt durch die kühle, nach Brennholz riechende Luft von Xochimilco. Es ist der Tag bzw. die Nacht der Toten und ich bin auf dem Weg zu einer Aufführung von La Llorona – „die Weinende“. Blaues und lila Licht der Scheinwerfer erhellt nun die Dunkelheit. Unser Boot platziert sich neben all den anderen Booten auf einem See gegenüber einer kleinen Insel, auf der die Aufführung stattfinden wird. Vor einer aufgebauten aztekischen Pyramide beginnen die Schauspieler nun zu den dröhnenden Trommeln zu tanzen, die von der Wildnis der Flüsse und des mexikanischen Hochlandes zeugen. Mein Blick wandert zum zunehmenden Mond und ich lasse mich hinfort tragen von der Magie einer Kultur, die hier noch immer so lebendig ist. Ich spüre sie im Wasser, in der Erde, in den Klängen. Kein Wunder, dass bis heute von La Llorona erzählt wird. Noch immer soll man in manchen Nächten ihr Weinen und Klagen in den Kanälen von Xochimilco und hoch hinauf bis nach Mixcoac hören. Die Schauspieler vor uns erzählen, wie sich ein junges aztekisches Mädchen in einen spanischen Eroberer verliebt hat. Von ihm mit Zwillingen schwanger, verrät er sie jedoch für eine seinem Stand entsprechende europäische Frau. Gebrochenen Herzens ertränkt das Mädchen ihre Kinder in einem der Wasserkanäle, doch ihr Geist wird ihren Tod nie verkraften. In ihrer Geschichte klingt der Schmerz über den Tod und den Verrat dieser vergangenen Hochkultur durch die Spanier nach. Doch sie lebt weiter, besonders hier in Xochimilco.

Auf unserem Rückweg zum Kai beschließe ich, bei Tag hierher zurückzukehren.
„Wir haben die Snacks im Auto vergessen.“ Ein Raunen geht durch unsere Reisegruppe. Es ist Samstag, die Sonne strahlt und scheinbar ganz Mexico City pilgert hierher zu den Ufern von Xochimilco, um zu trinken, zu feiern und zu tanzen. Denn dafür ist dieser Ort eigentlich bekannt. Von leuchtend bunten Booten dröhnt gleichzeitig und durcheinander unterschiedliche Musik. Familien lachen und Geburtstagsgesellschaften gröhlen. Mal wieder bewundere ich die Immunität der Mexikaner für Lautstärke. Noch bevor wir den Hafen verlassen, nähert sich ein Boot, das Essen und Getränke verkauft. Meine Freunde decken sich ein mit Maiskolben, Chips und Micheladas, Bier mit Chilisoßen und anderen Zutaten gemixt. Für sie ist es ein netter Ausflug mit späterem Gruselfaktor. Ich aber möchte dem Geist von Xochimilco auf den Grund gehen.
Unser Bootsführer wählt zum Glück Kanäle abseits der Partys, kleine Flüsse, die sich zwischen Ufern voll leuchtender Blumen schlängeln. Störche und Kraniche beobachten uns auf unserem Weg und ich erkenne die uralte Magie wieder, die ich hier das erste Mal gespürt habe. Die Atmosphäre schlägt auch meine Freunde in ihren Bann. Wie verzaubert starren sie auf das Wasser. Die Gespräche verstummen und meine Gedanken richten sich allmählich auf unser Ziel – die Insel der toten Puppen.

Ich habe lange gezögert, sie zu besuchen. Denn wer mich ein wenig kennt, weiß, dass ich mich schnell grusele und diese Energien lange mit mir herumtrage. Schon bei meinem ersten Besuch in Mexiko hatte ich die Besichtigung vor, aber die Bilder der mit verstümmelten Puppen vollbehangenen Insel haben mich zu sehr abgeschreckt. Es war die Magie der Nacht der Toten, die mich jedoch hat rätseln lassen, ob nicht noch mehr hinter der Gruselgeschichte steckt. Und die geht so: Der Blumenzüchter und Fischer Julián Santana Barrera lebte alleine auf seiner kleinen Insel. Eines Tages fand er die Leiche eines Mädchens, die an sein Ufer gespült worden war. Er begann ihr Klagen und ihre Schreie nach neuen Spielzeugen zu hören, woraufhin er Puppen überall auf der Insel aufhängte. Als diese ihren Geist aber nicht besänftigten, verstümmelte er die Puppen, um ihn zu vertreiben. Bis zu seinem Tod hing er fast 1000 dieser Puppen auf und starb 2001 durch einen Herzinfarkt an derselben Stelle, an der er 50 Jahre vorher die Leiche des Mädchens gefunden hatte.
Wir nähern uns der mit einem Zaun und hohen Schilf umgebenen Insel. Ein wenig überfordert von der plötzlichen Ankunft packe ich meine Sachen. Meine Freunde schnattern leicht angetrunken und unbesorgt vor sich hin, als sich plötzlich alle meine Haare aufstellen. Ich halte inne und blicke durch ein kleines Tor. Zum ersten Mal sehe ich einige der Puppen. Mein Magen zieht sich zusammen, so wie ich es nur von der Begegnung von extremen spirituellen Energien kenne. Die Aura der Insel ist bis über ihre Grenzen spürbar. Plötzlich berührt mich eine Hand an der Schulter.
„Ich glaube, ich bleibe auf dem Boot, Sonia“, sagt meine Freundin Sofia mit besorgter Stimme.

Ich nehme es ihr nicht übel. In Gedanken stoße ich ein kurzes Gebet an Hekate aus. Ich hatte mich zuhause gut ein- und ausgeräuchert und hoffe, dass der Schutz bestehen bleibt. Wir legen an und mit den anderen betrete ich die Insel. Mein Puls beschleunigt sich, während ich mir den Weg zwischen den mit Puppen behangenen Bäumen bahne. Ich weiß nicht, was ich schlimmer finde, den reinen Anblick der hängenden Puppen oder dass sie so verschlissen aussehen. Ihnen fehlen tatsächlich Augen und Gliedmaßen. Moos wächst auf ihnen, ihre Kleidung zerfällt. Sie erinnern mehr an Leichen als an Spielzeuge, die Kinder glücklich machen sollen. Ich bleibe stehen und atme tief durch. Mit einer kurzen Visualisierung grenze ich mich von der Atmosphäre ab und dann geht es plötzlich besser. Ich kann wieder atmen und beruhige mich. Jetzt ist es vor allem Faszination, die mich vorantreibt.

Ich besuche den bunten und fröhlichen Altar vom Tag der Toten, streichele eine Katze, die sich im Sonnenlicht badet und fühle mich dann erst bereit, den Geist des hier ertrunkenen Mädchens zu erfühlen. Ich schließe meine Augen, … doch der Horror und die Bedrohung kommen zurück. Der Fluchtinstinkt packt mich an den Haaren. Ich weiß nicht, was es ist, doch es kann nicht nur der Geist des Mädchens sein. Wieder muss ich mich zusammenreißen und nähere mich nun einem hölzernen Schuppen. Auch er ist über und über behangen mit Puppen behangen, manche gespendet von großen Berühmtheiten wie Tim Burton. Hier befindet sich der eigentliche Schrein des Mädchens. Kerzen, Räucherungen, Süßigkeiten Haargummis und Barbies liegen vor einem ehemaligen Schminkkopf mit hohlen Augen, ein Puppenkopf in den Mund gestopft.

Ein Inselführer erklärt uns Besuchern die Geschichte, doch ich kann mich nicht losreißen vom Anblick einer Puppe gleich über mir, die als einzige hin und her schwingt. Dafür gibt es bestimmt natürliche Erklärungen, aber die Energie hier ist so dicht, so dunkel, dass es ich daran zweifle. Und wieder frage ich mich – kann wirklich „nur“ der Geist eines kleinen Mädchens dafür verantwortlich sein? Ganz Mexiko besitzt diesen rohen, direkten Zugang zur Magie, insbesondere zur Magie der Unterwelt, wie ich z. B. auch in Tepito erleben durfte. Und gerade hier in Xochimilco sind sicherlich auch andere, sehr viel ältere Energien am Werk. Mein Gedanken wandern zu La Llorona, die noch immer in den Wasserkanälen herumspuken soll. Ich kann es mir nur so erklären, dass die Menschen selbst den Geist dieses Ortes, den Spiritus loci, mit ihrer Angst und gleichzeitigen Verehrung, dem ständigen Darbringen immer neuer Puppen als Opfergaben, extrem verstärkt haben. Ich persönlich glaube, dass hier zusätzlich eine Art Egregor (eine durch menschliche Gedanken geschaffene metaphysische Wesenheit) entstanden ist, der auch, wenn der Geist des Mädchens seinen Weg ins Jenseits findet, hier bleiben wird.
Der Inselführer beendet seinen Vortrag und die Besucher machen sich daran, vor dem Altar zu beten. Doch ich habe meine Lektion aus Tepito gelernt. Weder werde ich beten, noch eine Gabe dalassen. Ich spüre, wie mich mein Schutz noch immer von der Atmosphäre abgrenzt und möchte das auch nicht ändern.

Nur als ich auf dem Rückweg etwas abseits auf die Kreuze und Gedenktafeln an der Stelle treffe, an denen das Mädchen und Julián ertrunken sein sollen, gedenke ich ihnen kurz. Eine leichte Brise streicht über mein Gesicht und für einen kurzen Moment spüre ich eine tiefe Stille. Vielleicht ruhen die beiden doch schon in Frieden. Ich wende mich der Sonne zu und betrete unser leuchtend buntes Boot, das uns zurück in das fröhliche Treiben Mexico Citys bringen wird.
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[…] meinem Erfahrungsbericht zu der Insel der Puppen habe ich viel von Energie, vom Spiritus loci und Egregoren gesprochen. Doch von den Geistern der […]
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