„Wir sind da, oder?“
Die niedrigen, bunten Häuser ziehen in Reihen an mir vorbei. Aufgemalte Werbung an den Wänden und Müll säumt die kahlen Straßen. Menschen gehen ihren Erledigungen nach, während die Sonne erbarmungslos vom Himmel knallt. Nichts unterscheidet diese Straßen von den Straßen, die wir zuvor entlanggefahren sind. Und doch hat sich die Atmosphäre schlagartig verändert. Sie ist dichter. Stiller. Bedrohlicher. Jede meiner Bewegung erhält plötzlich eine ungewollte Bedeutung. Obwohl ich im Auto sitze, fühle ich mich beobachtet. Nicht nur von menschlichen Augen.
Ich reiße mich von dem Anblick einer Drogenabhängigen los, die ihr Gesicht ununterbrochen in ein mit wer-weiß-was getränktem Tuch drückt und so durch die Gassen wankt. Mein Freund nickt nur stumm.
Tepito ist die gefährlichste Gegend Mexico Citys. An jeder Straßenecke stehen Polizeiwagen, doch die Polizei ist hier weit davon entfernt, Freund und Helfer zu sein. Das Viertel wird von den ärmsten Bevölkerungsschichten bewohnt. Kriminalität ist an der Tagesordnung. Viele der Auftragsmörder der mexikanischen Bandenkriege sind hier aufgewachsen.
Dann hält unser Auto an. Wir sind am Ziel angekommen, dem Schrein der Santa Muerte von Enriqueta Romero. Unsicher steige ich aus und schaue mich um. Eine Schlange steht am Eingang zum unscheinbar wirkenden Schrein. Er wurde aus einfachen Ziegeln und Wellblech erbaut. Blumenbouquets sind davor aufgebaut, die man kaufen und als Opfergabe darbringen kann. Unsicher schaue ich mich um. Sind wir hier willkommen? Über den Köpfen der Gläubigen grinst mich der langhaarige Totenkopf der Santa Muerte an.

Ihr Kult ist einer der am schnellsten wachsenden weltweit, doch ist sie noch nicht lange im öffentlichen Bewusstsein angekommen. Erst seit ca. 2005 wird häufiger über ihre „neuartige“ Verehrung berichtet und dann immer in Verbindung mit ihren zwielichtigen Gläubigen, die nicht selten aus dem Drogenmilieu stammen. Wer ist sie also – der heilige Tod? Anthropologen gehen davon aus, dass ihr Kult auf den Totenkult der Azteken zurückgeht, insbesondere auf den Totengott Mictlantecuhtil und seiner Frau Mictecacíhuatl, die beide Mictlan, die Unterwelt, regierten und mit Totenschädeln als Gesicht dargestellt wurden. Noch aus dem 18. Jahrhundert gibt es Berichte der spanischen Inquisition von zentralmexikanischen Ureinwohnern, die eine Skelettfigur mit Namen „Santa Muerte“ fesselten und sie um Wunder und Wunscherfüllungen anriefen. Generell findet man die Verehrung des Todes in abgewandelter Form in ganz Mexiko, insbesondere an einem der wichtigsten Feiertage, dem Tag der Toten zu Allerseelen (und damit nah an anderen paganen Todesfeiertagen wie Samhain). Doch der Kult der Santa Muerte sticht heraus. 1950 gab es die ersten Berichte aus Tepito von der „neuen“ Religion, die bis dato nur im Untergrund ausgeübt wurde. Heutzutage werden Santa Muerte ganze Kirchen und Schreine geweiht. So wie der, vor dem ich jetzt stehe. Ich habe von dieser Göttin des Todes einiges gelesen. Sie soll gnädig sein, aber vor allem noch behandelt sie jeden Menschen gleich, so wie auch der Tod jeden Menschen gleichbehandelt. Das ist auch der Grund, weswegen sie im Narco-Milieu so beliebt ist. Sie kann angerufen werden, um Menschen zu töten, um Geld zu erhalten, das einem nicht gehört, um von einer gerichtlichen Verfolgung verschont zu bleiben. Aber auch für schwarzmagische Liebeszauber kann sie beschworen werden. Denn der Tod kennt keine Moral. Er ist reine Energie.
Und so wird die Schlange kürzer und kürzer. Ich klammere mich an die kleine Votivkerze, die ich mitgebracht habe. Warum ich einer Göttin, die so viel Leid unterstützt, eine Opfergabe mitbringe? Weil ich sie als Spirit von Mexico, insbesondere Mexico City betrachte. Mit meinem Umzug hierher habe ich ihr Gebiet betreten. Ich bin in ihren Machtbereich eingedrungen. Und so wie ich mich bei meinem ersten Besuch den alten Göttern vorgestellt habe und ihren Segen erbeten habe, so möchte ich das auch mit Santa Muerte tun und vor allem um ihren Schutz bitten. Denn das ist auch eine ihrer Facetten, Beschützerin der Schwachen und von der Gesellschaft Ausgestoßenen, derjenigen, die keine andere Wahl haben, als sich zu prostituieren oder Drogen zu verkaufen, um nicht zu verhungern. Wer bin ich also, dass ich sie oder ihre Gläubigen verurteile? Und davon ab, habe ich von einigen ihrer Anhängern gelesen, dass sie einen fantastischen Sinn für Humor haben soll, auch wenn sie recht eifersüchtig sein soll und nicht neben anderen Gottheiten verehrt werden will.
Die Frau vor mir beendet ihr Gebet und macht den Weg für mich frei. Nun stehe ich vor Santa Muerte, nur getrennt durch eine Glasscheibe. Eine viel zu große Plastikperücke sitzt auf ihrem Kopf. Ihre Hand mit Fingern aus dickem Pappmaschee strecken sich mir vollgesteckt mit Schmuck und Geldscheinen entgegen. Sie ist umgeben von Votivgaben, von Schnapsflaschen, Zigaretten und brennenden Kerzen. Statt Weihrauch wird Marijuana für sie verräuchert. Es ist nicht die heiligste Atmosphäre, die ich je erlebt habe, aber ich zünde meine Kerze trotzdem an und stelle sie an das kleine Becken vor der Glasscheibe. Mit geschlossenen Augen versuche ich ihren Geist zu erspüren mit der Erwartung, auf diesen humorvollen Spirit zu stoßen, von dem ich gelesen habe. Doch dann ergreift mich starker Schwindel. Meine Gehirnhälften scheinen sich auseinanderzuziehen. Das kleine Becken vor mir mit den Kerzen wird zu einem unendlichen Abgrund erfüllt mit reinem Chaos. Erschrocken weiche ich zurück und Santa Muerte scheint zu sagen: „Ich mache keine halben Sachen. Entweder ganz oder gar nicht.“ Ich spüre diesen gewaltigen dunklen – aber nicht bösen – Sog, die Einladung, mich ihr ganz hinzugeben. Doch ich weiß mit jeder Zelle, dass ich nicht bereit bin für diese Energie des unendlichen Chaos, das nicht zwischen Gut und Böse unterscheidet, ja, dass diese Unterscheidung gänzlich in Frage stellt. Ich entschuldige mich, ziehe meine Energie zurück und verschließe mich. Santa Muerte nimmt meine Opfergabe nicht an und ich nehme ihre Energie nicht an. Es herrscht Frieden zwischen uns, doch ich habe eine neue, gewaltige Ehrfurcht vor ihr und ihren Gläubigen, die mit dieser Kraft anscheinend umgehen können, gewonnen.

Schnell gehe ich weiter und ziehe meinen Freund mit. Auch er ist überwältigt von der Intensität und Tiefe der Begegnung, doch er scheint irgendeine Verbindung mit ihr aufgebaut zu haben, auch wenn er ihre Energie eigentlich auch nicht in sein Leben einladen will. Doch er kann nicht anders und kauft einen kleinen Schlüsselanhänger im benachbarten Laden. Davor kommen wir ein wenig zur Ruhe und tauschen uns aus.
„Willst du noch den Schrein des schwarzen Engelchens („Angelito negro“) besuchen?“, fragt er mich. Noch im Auto hätte ich wahrscheinlich gesagt, dass ich Tepito so schnell wie möglich wieder verlassen will, doch die Gefahr macht süchtig. Die dichte, bedrohliche Atmosphäre hat mich in ihren Bann geschlagen. Ich nicke nur stumm. Neben uns steht ein Paar. Der Mann hat ein volltattoowiertes Gesicht und trägt einen Ziegenkopfanhänger an einer Halskette. Seine Begleiterin scheint eine Prostituierte zu sein. Sie beäugen uns als mein Freund nach dem Weg zu dem satanistischen Schrein fragt. Dann fällt der Blick des Mannes auf den Santa-Muerte-Anhänger, den mein Freund gerade gekauft hat. Sein Gesicht hellt sich auf und er verspricht meinem Freund ihm den über Whatsapp zu schicken. Er speichert ihn unter „Hermano“ (Bruder) ein. Als sie uns verlassen, witzelt mein Freund „Santa Muerte bringt mir Glück.“
Dann machen wir uns auf den Weg. Es fühlt sich an, als würden wir mit unserem Körper dicken Nebel aus Dunkelheit durchschneiden müssen. Die Menschen spüren, dass wir nicht hierhergehören. Ihre Augen verfolgen uns. Einen Block weiter sind wir angekommen. An einer weißen Tür, die anscheinend in einen kleinen Hinterhof führt, kleben Sticker mit Teufelsköpfen. Mein Freund klopft an die Tür. Ein kleiner Mann macht auf, zwischen seinen Augenbrauen prangt ein rotes satanistisches Zeichen. Seine Augen stieren uns an, während mein Freund erklärt, dass wir den Schrein besuchen möchten. Er nickt nur uns lässt uns ein. Ich kriege Panik. Santa Muertes Energie war tief, aber nicht böse. Die Energie hier ist böse, aber nicht tief. Will ich das? Denn Satanismus in Mexiko ist anders als Satanismus in Deutschland. In Deutschland sind Satanist*innen oft in der Philosophie hochgebildete Menschen, die die Freiheit und Gottgleichheit des menschlichen Willens feiern. Satan ist Symbol dieser Freiheit und kein böser Gott, dem man Blut opfert. In Mexiko aber ist Satan genau das. Hier werden all die Vorurteile gegen Satanisten wahr. Blutopfer, Kindstötungen, all das kommt in mexikanischen satanistischen Kulten vor, um Macht zu erhalten, Macht, die insbesondere unterprivilegierte Gruppen nicht besitzen. Will ich damit also in Kontakt kommen? Doch schon gehe ich die enge Gasse entlang. In dem Hinterhof mit den türkis angemalten Wänden steht ein Wäscheständer mit Wäsche. Der Mann hält vor einem Eingang mit einem Vorhang und zieht ihn zur Seite. Er fordert mich auf in einen kleinen, dunklen Raum zu gehen. Ich zögere, doch dann geht mein Freund hinein und ich folge ihm. In einem riesigen umgedrehten Pentagramm sitzt das Abbild eines kleinen Dämons, vor ihm zahlreiche Opfergaben aus Schnaps, Äpfeln und einem Schweinekopf. An einer der rot beleuchteten Wände steht ein Gebet an Luzifer und seine Engel. Ich starre dem Dämon direkt in die Augen. Wieder spüre ich die böse Energie, doch kann ich mit ihr einfacher umgehen als mit der von Santa Muerte. Ich weiß, womit ich es hier zu tun habe. Aus Respekt – und auch ein bisschen aus Angst – lasse ich etwas Geld als Opfergabe dar. Sofort spüre ich, dass es ein Fehler war, denn ich nehme unwillentlich etwas von der Energie wieder mit hinaus (was ich die folgenden beiden Nächte leider spüren werde).

Endlich schließt sich die weiße Tür hinter uns. „Können wir jetzt nach Hause?“, frage ich erschöpft. Dieser Trip hat mir alle Kraft entzogen. Mein Freund ruft ein Uber und dann machen wir uns endlich auf den Weg zurück in meine privilegierte und sichere Nachbarschaft. Wir entschließen uns mit einem Mittagessen in einem Restaurant zu stärken, während der Santa-Muerte-Anhänger uns vom Tisch aus angrinst. Mit der Rechnung kommt die Besitzerin des Restaurants und sagt, dass wir heute nichts zahlen müssen.
„Siehst du, Santa Muerte bringt mir Glück“, lächelt mein Freund.
Erstmal wieder vielen Dank, dass du deine Erfahrung wieder öffentlich teilst.
Intensive Begegnungen, auch wieder durch deine Beschreibung. Für mich persönlich wäre das komplette Fehlen von Moral nichts.
Und diese Form des Satanismuses erst recht nicht. Die Konsequenzen, auf kurz oder lang für diese Individuen mal dahin gestellt.
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Liebe Sonja, ich bin sehr begeistert von all deinen Beiträgen. Aber dieser Blog Eintrag zu Santa Muerte hat mich ganz und gar mitgenommen woow! Ich hatte fast das Gefühl, ich wäre dort ✨
Danke dass du in dieser chaotischen Welt, mit deinem Wissen und deinem Mut Klarheit schaffst und deine Einsichten teilst🧡
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Vielen Dank für deine lieben und aufbauenden Worte 🙂
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[…] Atmosphäre besonderer Orte wie den heißen Quellen von Tolantongo und dem gefährlichen Viertel Tepito in Mexico City. Am mexikanischen Tag der Toten, dem 2. November, war ich nachts zu einer […]
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[…] rohen, direkten Zugang zur Magie, insbesondere zur Magie der Unterwelt, wie ich z. B. auch in Tepito erleben durfte. Und gerade hier in Xochimilco sind sicherlich auch andere, sehr viel ältere […]
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