Der Bus ruckelt über die unbefestigte Straße in engen Schlangenlinien an einem steilen Abhang entlang. Je weiter nach unten wir kommen, desto mehr lichtet sich der Nebel und eine raue Berglandschaft kommt zum Vorschein. Falken ziehen auf unserer Augenhöhe Kreise über die Täler in der Ferne, während der Regen den Boden unter uns in Schlamm verwandelt. Ich setze alles auf die Erfahrung unseres Fahrers, denn der Bus ächzt und stöhnt in jeder Kurve.
Es ist genau das, was ich brauche.
Nach drei Monaten Mexico City sehnt sich mein Herz nach wilder Natur, nach kühler, frischer Luft und Weite. Nur mal ein bisschen Magie auftanken, bevor es wieder in das bunte Chaos geht, ins Feiern, Ausgehen und Lachen. Tatsächlich habe ich mich ein bisschen zu sehr mitreißen lassen. Die Aufregung der ersten Monate hat mich orientierungslos gemacht. Ohne die tiefen Wurzeln meiner Heimat war ich wie eine Feder im Wind, bin hierhin und dorthin gegangen, hab diese und jene Menschen kennengelernt und zu nichts, zu rein gar nichts, Nein gesagt. Meine Tage verschwammen. Selbst das Einkaufengehen war zu viel Struktur für mich, willkürliche Essenbestellungen über den Tag verteilt und im Bett liegen, bis zum nächsten Event.
Das hier, ist genau das, was ich brauche.

Tiefer und tiefer fahren wir in die Schlucht, bis uns ein orangefarbener Eingangsbogen begrüßt. Wir ziehen uns bis auf die Badesachen aus und dann dackele ich meiner Reisegruppe in Flipflops und einem Handtuch um meine Hüften geschlungen durch den Schlamm hinterher. Nieselregen benetzt mein Gesicht und es braucht einige Minuten, bis sich mein halbnackter Körper an den Temperaturunterschied gewöhnt. Ich atme tief die kühle Bergluft des mexikanischen Hochlandes ein, doch dann macht sich eine Befürchtung in mir breit. Wie soll ich hier auftanken bei den vielen Menschen?
Tolantongo ist der Name der heißen Quellen, die hier – ungefähr vier Stunden von Mexico City entfernt – entspringen. Der Name stammt aus dem Nahuatl, der Sprache der Azteken, die auch heute noch von fast zwei Millionen Menschen gesprochen wird und bedeutet ganz einfach „fließendes, heißes Wasser“. Die Wasser des Tolantongo waren als heilige und heilende Wasser schon bei den Tolteken bekannt, die später von den Azteken erobert wurden. Ein alter, magischer Ort also, dessen Kraft ich vollkommen in mich aufsaugen will.
Kinder rempeln mich an, ein Aufseher ermahnt durch ein Megafon einzelne Besucher ihre Handtücher über den Zaun zu hängen, Menschen stehen in Schlangen an, um die große Grotte, über der sich ein Wasserfall ergießt, zu besuchen. War alles umsonst? Doch eine leise Stimme in mir fordert mich auf, mich auf den Geist dieses Ortes zu konzentrieren. Für einen kurzen Moment überkommt mich Angst. Es ist nicht lange her, dass ich diese Fähigkeit für lange Zeit verloren geglaubt hatte. Was, wenn es nicht klappt? Doch dann verschiebt sich die Realität. Die Nebel lichten sich und das zweite Gesicht übernimmt. Die heißen Wasser sprudeln und lachen, stürzen sich voll Übermut hinab in das Becken eines breiten Flusses, der das gesamte Tal durchströmt. Ich taumle auf dem felsigen, glitschigen Untergrund und halte mich an dem Zaun fest. Meine Angst hat nicht mit dieser Lebensfreude gerechnet. Ich dachte, es sei von einem heiligen Ort zu einem Ort geworden, den Touristen über kurz oder lang mit ihrer Weltlichkeit zerstören würden. Doch der Geist der Quellen heißt uns willkommen – alle von uns. Mit Frieden in meinem Herzen stelle ich mich unter den Wasserfall und werde von ihm empfangen. Das heiße Wasser rauscht über meinen Körper, die Wärme umarmt mich. „Hab keine Angst, ich habe mehr zu geben, als man mir nehmen kann.“

Und dann endlich gebe ich mich hin, der Magie, die durch nichts zu bändigen ist. Ich nehme ein Bad im Fluss, lasse mich von der Strömung mittreiben, besuche die Grotten und heißen Wasserbecken inmitten des Berges, überblicke in strömendem, eiskalten Regen aus den in den Felsen gehauenen Pools das tiefe Tal. Ich nehme die Heiligkeit des Wassers, das tief in der Erde durch Magma erhitzt wurde, in mich auf. Meditiere, visualisiere. Feuer und Wasser, zwei magische Elemente, die kaum zu vereinen sind, außer hier. Das Wasser spült meine Anspannung hinfort. Das Feuer schenkt mir neue Kraft. Die Stunden vergehen wie im Flug. Der Himmel verdunkelt sich. Irgendwann ist es Zeit zu gehen. Ein letztes Mal bedanke ich mich bei dem Geist des Ortes, der mir genau das gegeben hat, wonach ich mich gesehnt habe, nicht wissend, dass die heilenden Wasser ihre Aufgabe noch nicht abgeschlossen haben.
Erschöpft liege ich in meinem Bett und mache mir wie jede Nacht Sorgen darüber, wie ich wohl schlafen werde. Mindestens einmal pro Nacht wache ich auf und es dauert, bis ich wieder einschlafe. Selten fühle ich mich am nächsten Tag wirklich ausgeruht. Ich überlege, mir eine geführte Meditation anzumachen, doch dann fällt mir etwas auf. Noch immer fühle ich, wie das Wasser des Tolantongo um meinen Körper spült. Es fühlt sich an wie seine Strömung, die von rechts nach links über mich zieht. Es ist warm und angenehm und noch bevor ich vollständig realisieren kann, was mit mir geschieht, falle ich in einen tiefen Schlaf.
Fantastische Welten entfalten sich vor meinen Augen. Tiefe Schluchten, die von einem magischen goldenen Licht erfüllt sind. Überall um mich herum stürzen gewaltige Wasserfälle in die Tiefe. Wie ein Falke fliege ich durch sie hindurch und lande in einer Befestigung. Die steinernen Gebäude am Abhang scheinen ein Labyrinth zu bilden. Dann höre ich eine Stimme hinter mir. Eine alte Freundin, zu der ich schon länger keinen Kontakt mehr habe, begrüßt mich. Wir reden und lösen gemeinsam Rätsel, die uns gestellt werden. Dann erscheint mir ein Ex-Freund und noch ein Ex-Freund. Personen, die ich meinte schon längst vergessen zu haben, besuchen mich und klären Ungeklärtes, Wunden, die anscheinend noch nicht verheilt waren. So geht es immer weiter, bis aufwache. Wie immer schaue ich zunächst nach der Uhrzeit. Zehn volle Stunden habe ich durchgeschlafen. Ich fühle mich wortwörtlich wie neugeboren. Alles in mir fühlt sich frisch und klar an, doch noch viel wichtiger – ich fühle mich, als sei ein großer Teil meiner Emotionen geheilt worden. Wieder danke ich dem Geist der heißen Quellen. Seine Wasser heilen nicht nur den Körper, sondern auch die Seele.
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Vielen Dank, dass du mich bzw. uns wieder teilhaben hast lassen an einer deiner Erlebnisse.
Dein Schreibstil lässt mich mühelos die mögliche Szenerie vor meinem geistigen Auge abspielen und lässt mich erahnen, wie tief dieses Erlebnis ging.
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Das freut mich 🙂
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[…] erzähle ich oft von der Stimmung oder Atmosphäre besonderer Orte wie den heißen Quellen von Tolantongo und dem gefährlichen Viertel Tepito in Mexico City. Am mexikanischen Tag der Toten, dem 2. […]
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