Die Kraft der Materie

Beim Schreiben des ersten Grundlagenartikels für meinen Blog (ich schwöre, wenn ich die ganzen Grundlagen nach drei Büchern und diesem Blog NOCHMAL schreiben muss, drehe ich durch) kam mir ein Gedanke. Ich war gerade dabei, zu erklären, wie der Geist alles erschafft und aus ihm hervorgeht. Nach Plato: Die Materie ist Abbild des geistigen Urbilds. Demnäch wäre der physische Kosmos (alles, was materiell existiert), Abbild des Einen Geistes oder – wieder platonisch ausgedrückt – der Weltseele. Mein Körper ist Abbild meines Geistes als Urbild, ein Baum ist ein Abbild des geistigen Urbildes „Baum“ u.s.w. So kennt man es, so hat man es gelernt, so steht die Magie-Theorie schon seit der Antike. Der Geist sendet aktiv, die Materie empfängt passiv und wird passiv geformt. Hier liegt auch der Ursprung für die Geschlechterrollen, insbesondere im Wicca, wo der Gott das sendende Prinzip verkörpert und die große Göttin das empfangende.

Die empfangende Göttin?, Canva

Jetzt aber der Knackepunkt – wir sind ja alles moderne, intelligente Menschen, mit einem gewissen Bildungsstand, der auf der aktuellen Wissenschaft beruht (oder beruhen sollte). Der Urknall und die Evolutionstheorie sind die derzeitigen Standardmodelle. Ihnen zufolge war die Materie zuerst da und über viele Milliarden Jahre und unendlich viele zufällige Kombinationen der chemischen Elemente formten sich aus ihr Galaxien, Sonnensysteme und schließlich unsere Erde. Hier gab es zufällig Wasser, Methan, Ammoniak, Wasserstoff und – Blitze. Durch ihre Einschläge in die Ursuppe formten sich Aminosäuren, die Bausteine von Proteinen und damit die Grundlage der ersten Zellen. Von hier an ging es dann relativ schnell, aus Einzellern wurden Mehrzeller. Bakterien, Pilze, Pflanzen und Tiere entstanden, bis hin zum Menschen. Hier wird es interessant. An irgendeiner Stelle in dieser Explosion des Lebens formte sich Bewusstsein und damit Geist. Die Wissenschaft kann nicht erklären, was genau Bewusstsein ist, nur, dass es existiert und mit den Gehirnfunktionen eines Lebewesens in Zusammenhang steht. Es gibt unterschiedliche Tests, die bestimmen können, ob und welche Tiere ein Ich-Bewusstsein besitzen (z. B. der Spiegeltest) und es scheint, als ob der Mensch eine der ausgeprägtesten Formen von Bewusstsein besitzt. Mit unserer Fähigkeit, zu denken, haben wir nicht nur die Erde erobert, sondern auch den Weltraum. Und das ist – aus wissenschaftlicher Sicht – nur möglich gewesen, weil Materie Geist hervorgebracht hat – genauer gesagt, das Gehirn. Das steht aber im Widerspruch zur platonischen Philosophie, dass Geist Materie erschafft. Dazu muss natürlich gesagt werden, dass die Platoniker Geist nicht nur als Bewusstsein definierten, sondern vor allem als der Welt zugrundeliegendes Konzept oder Programm, das kein Gehirn braucht, um zu existieren. Trotzdem finde ich, ist es ein Gedankenexperiment wert, zu überlegen, was es für die Magie zu bedeuten hätte, wenn Materie Geist erschafft und nicht andersherum.

Dann würden sich nämlich Aktiv (Geist) und Passiv (Materie) umkehren. Es gibt sogar einige Hinweise in der Hexerei, dass es beide Richtungen der Erschaffung gibt. Immer wieder wird gesagt, dass die große Göttin den Gott hervorbringt. Die große Göttin aber ist eigentlich Verkörperung des passiven Prinzips. Auch all die Werkzeuge und Zutaten, die Hexen in ihren Zaubern benutzen – Kerzen, Kräuter, Räucherungen – würden demnach die geistige Intention und ihre Manifestierung aus ihrer Materie heraus erschaffen. Und ohne zu weit in andere kulturelle Weltanschauungen abdriften zu wollen, kennt das Kundalini-Yoga zwei gemeinsam erschaffende Kräfte, die am Anfang eins waren (hört sich bekannt an?). Die Shiva-Energie (männlich, btw) stellt das absolute Bewusstsein, den Geist dar und fließt von oben nach unten durch den menschlichen Körper. Die Shakti-Energie (weiblich, *wink wink*) sitzt als Kundalini, als „zusammengerollte Schlange“, am Wurzel-Chakra, das mit der materiellen Welt verbunden ist und steigt beim Erwachen von unten nach oben zur Shiva-Energie auf. Das ist natürlich nicht so ohne weiteres auf die westliche Magie-Philosophie übertragbar, zeigt aber doch, dass die Vorstellung von einer weiblichen, der materiellen Welt zugehörigen Schöpfungsenergie existiert. Hier komme ich auch zu meiner persönlichen Schlussfolgerung, dass wahrscheinlich beide Weltanschauungen – Geist wird zu Materie und Materie wird zu Geist – wahr sind. Für die Hexerei würde das eine neue Wertschätzung für die Kraft, die der Materie innewohnt bedeuten und ihren bewussteren Einsatz in Zaubern und Ritualen.

4 Kommentare

  1. Ich musste schmunzeln, bei dem Satz: „Hier gab es zufällig…“, da das Prinzip des Zufalls nicht mehr zu meiner Weltanschauung angehört. 😉
    Am Ende hat jedes „Wesen“ das Potenzial von beiden Kräften. Meist das Eine mehr als das Andere. Gilt dann nur herauszufinden, welche Kraft wann am Besten genutzt werden sollte.

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  2. Warum muss eigentlich eins von beidem zuerst dagewesen sein? Vielleicht war beides zugleich da und wurde nur getrennt, damit die Zeit beginnt und das Rad sich dreht?

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