Tiefer hinein und höher hinauf

Ein stechender Schmerz bohrt sich in mein Bewusstsein und weckt mich allmählich aus dem Schlaf. Verwirrt öffne ich meine Augen. Es ist noch dunkel draußen. Der Schmerz lässt nicht nach. Erst jetzt wird mir klar, dass es meine künstlichen Fingernägel sind, die sich in meinen Oberschenkel graben. Ich ziehe meine Hand zurück, versuche mich zu entspannen. „Das ist kein gutes Zeichen“, denke ich genervt. Es passiert mir immer nur, wenn ich unter starkem Stress stehe. Ich wälze mich im Bett. Die letzte Zeit war hart. Der Tod meiner Mutter hat mich von meinen Reisen zurück nach Deutschland gezwungen. Und nun liege ich in meinem Elternhaus wach. Trauer – nicht nur meine – fließt von der Decke und von den Wänden, verdichtet sich und drückt, drückt, drückt. „Der Tod ist Transformation. Er ist nur ein Übergang.“ Wie oft habe ich das gepredigt? Und jetzt? Jetzt scheint dort nichts mehr zu sein – nach dem Tod. Nur unendliche Leere und Dunkelheit. Wem mache ich etwas vor? Es ist alles eine Illusion, um sich trösten zu können – Verbindung, Gott, Geist. Am Ende sind wir alle alleine. Ich fühle mich abgeschnitten, so als ob mit dem Tod meiner Mutter die Nabelschnur, die mich mit dem Leben verbunden hat, durchgetrennt wurde. Meine Gedanken beginnen immer schneller zu kreisen. Ich weiß, worin sie enden werden. Ich will um Hilfe bitten, aber wen? Oder was? Mein Glaube ist gestorben. Dort ist nichts mehr. Ich hieve mich aus dem Bett und starre in die Dunkelheit. Ich brauche Luft. Die Fenstertür in den Garten knarzt, während ich sie öffne. Der Rasen unter meinen nackten Füßen ist eiskalt, der Himmel bedeckt. Es ist Neumond. Wie innen so außen, nicht wahr? Ich schließe meine Augen. Es macht keinen Unterschied. „Es macht keinen Unterschied“, denke ich nochmal, diesmal mit ein wenig Hoffnung. Ich kann genauso gut um Hilfe bitten. „Hilf mir“, flüstere ich in die kühle Nachtluft. Mein Atem kondensiert und verflüchtigt sich so schnell wie der kurze Anflug von Hoffnung. Doch dann passiert etwas. Es fühlt sich an, als ob sich die Wolkendecke ein wenig öffnet, gerade soweit, dass sich ein Lichttropfen eines Sternes lösen und herabfallen kann. Er fällt und fällt und irgendwann durchbricht er die Oberfläche eines schwarzen Meeres. In mir kräuseln sich die Wellen, breiten sich in immer größeren Kreisen aus. „Es muss so sein.“ Ich nehme die Worte wahr im warmen Ton einer Mutter. Und ich verstehe.

Der Tod muss vollkommen hoffnungslos sein. Vollkommene Trennung. Genauso wie das Leben vollkommen hoffnungsvoll ist und dich vollkommen verbindet. Sie sind absolute Gegensätze und sie sind beide heilig. Nur durch das eine kommt man zum anderen und so komme auch ich nur auf der anderen Seite des Lebens wieder raus, wenn ich mich hingebe und den Schmerz die Trennung annehme. Auch ohne Glauben, ohne Hoffnung und Liebe – ohne die hochspirituelle Hexe zu sein, für die ich mich halte. Es ist der Sprung in die Tiefe, in den Schoß der dunklen Mutter, der Herrscherin des Todes, die verschlingende Göttin, die ihre Kinder tötet. Und es ist okay. Ich atme nochmal tief die kalte Luft ein. Das Gewicht hebt sich und mir wird klar, dass es weniger aus der Hoffnungslosigkeit bestand als aus dem inneren Kampf gegen sie.  

Ich friere und gehe wieder hinein, schließe die Tür hinter mir und lege mich ins Bett. Ich darf fallen.

Allmählich schlafe ich ein. Und am nächsten Morgen wecken mich goldene Sonnenstrahlen.

So beginnt meine Reise erneut. In die Tiefen, aber – wie ich hoffe – auch in die Höhen. Ich möchte mit diesem Blog meine Gedanken teilen, meine Erlebnisse, all das, was mich spirituell und manchmal nicht so spirituell bewegt. Ihr werdet hier Einblicke in mein Seelenleben finden wie in einem Tagebuch, viel Hexenwissen und auch Interessantes, Ungewöhnliches und Schönes aus Mexiko – meiner neuen Heimat. Es soll ein Ort sein, der frei ist von den Anforderungen und Algorithmen sozialer Netzwerke, an dem ich einfach über das schreibe, worauf ich gerade Lust habe. Ich freue mich, wenn ihr dabei seid und wenn ich vielleicht das eine oder andere in euch berühren kann. Blessed be!

4 Kommentare

  1. Wow, danke für diesen privaten Einblick. Ich fühle das sehr, im Februar ist auch meine Mutter recht plötzlich verstorben. Das ist immer ein besonderer Schnitt und man lernt dabei unfreiwillig viel über die eigene Spiritualität.

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  2. Ich habe schon immer deine Formulierungen geliebt, wie du deine Eindrücke schilderst.
    Sie lassen einen in die geschilderten Welten, Situation eintauchen.
    Es wird bestimmt viele bereichern und auch Denkanstöße anregen.
    Bzgl. Thema: omnipräsent zur jeder Zeit auf vielfältige Weise. Und ein Wichtiges noch dazu, dass leider viele zu verdrängen versuchen.

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  3. wow, richtig schöner 1. Blockeintrag 🌞 Du hast eine Begabung zum Schreiben! Ich war also, trotz des sensiblen Themas, erstmal baff von deiner Art aus einer Reihe von Worten so viel Kunst zu zaubern. Es tut mir unglaublich doll leid, dass deine ma verstarb und ich würde sie dir gerne zurückzaubern, aber manchmal ist es vlt besser dem Universum seinen natürlichen Rythmus zu lassen. Ich sende dir also ganz viel Liebe und Licht ♥️ Deine Becci

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    • Mein beileid! Meine Mutter ist vor bald 9 Jahren gestorben und wie oft würde ich sie auch heute noch um Rat bitten….

      Ixh freue mich total über deinen Blog. Ich hab deinen Schreibstil schon in deinen Büchern geliebt ❤️

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